Phantastische Reise in das Malerdorf Willingshausen

Vielleicht im landschaftlich schönsten Teile des Schwalmgrundes gelegen, ist Willingshauscn sicherlich auch das malerischste, der künstlerischen Ausbeute unstreitig günstigste Dorf seines Thales.

Von kleinen Gärtchen umgeben, in denen vorzugsweise der hohe Blütenstengel der Malve die Hauptzierde bildet, liegen die Häuser nahe beieinander, ärmlich und recht verwahrlost oft, aber umso malerischer dafür.

Alte Treppe in Willingshausen mit Blumen und Engelskopf geschmückt, fotografiert im August 2004 von Ursula Grochtdreis.

Auf dem meist steinernen Unterbau ruht der erste Stock, aus Fachwerk bestehend, zu diesem führt von außen eine hohe steinerne Treppe mit hölzernem Geländer, durch einen Dachvorsprung überdeckt, der wieder auf hölzernen Pfosten ruht.

Ludwig Knaus „Hessisches Leichenbegängnis im Winter“ Öl auf Leinwand 1871, Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Philipps-Universität Marburg

Auf dem Knaus’schen ergreifenden Bilde „Das Leichenbegängnis“ ist solch ein Treppenaufgang wie die sonstige charakteristische Erscheinung des Schwälmer Hauses ebenfalls zur Darstellung gelangt.

Der Handlungsreisende und der Maler bildeten wohl seit langen Jahren die einzige Sorte Städter, welche dem Willingshäuser zu Gesicht kam. Wer also keinen Musterkoffer mit sich führte, mußte notwendigerweise ein Maler sein.

Wir, die wir unser Gepäck und auch Malschirm und Farbkasten noch in Treysa gelassen hatten, wurden dennoch schon beim ersten Haus von der losen Dorfjugend mit dem unablässigen Ruf „Maler, mal‘ mich einmal ab!“ zu unserem nicht geringen Erstaunen begrüßt.

Zu solch‘ energischer Vertrauensäußerung hatte selbst die oberbayrische Jugend auf den zahlreich besuchten Studienplätzen der Münchener Künstler sich nie verstiegen, uns aber hatte diese Bewillkommnung wenigstens nachträglich eine nicht geringe fast stolze Beruhigung gewährt, wir waren im Hessenlande wenigstens nicht für Kommis gehalten worden.

Der Schwälmer Bauer, stolz auf seine Eigenart, auf seine Tracht und auf sein Thal, steht dem Fremden, dem Städter fast unzugänglich gegenüber. Besonders der Großbauer ist in seiner Würde unnahbar.

Gewiß wenige Maler nur können sich rühmen, dem Beherrscher eines solchen Bauerngutes ein Gegenstand der Beachtung gewesen zu sein. So war denn auch die direkte Erwerbung von Kostümstücken von seiten der Künstler für diese ein Ding der Unmöglichkeit und solches nur durch die Vermittlung der im Dorfe ansässigen Juden zu bewirken.

Dieser geschäftsgewandte Übergang vom Bauern zum Städter hatte denn auch den Kostümhandel hier zu ganz respektabler Blüte und Ausdehnung gebracht. Zugänglicher zeigten sich die jungen Mädchen und Burschen; nur am Sonntag, wenn die Glocke des kleinen Kirchleins die Dörfler zum Gottesdienst rief, waren auch diese wie verwandelt.

Wir Maler, es waren nächst uns noch mehrere Düsseldorfer Künstler, darunter der damals noch sehr junge W. Sohn, dessen eleganter Zeichenmappe wir Münchener nichts ähnliches entgegenzusetzen hatten, ferner zwei junge Maler aus Holland, wie auch der damals noch in Darmstadt lebende, später nach München übergesiedelte Paul Weber zu dieser Zeit in Willingshausen, wir Maler ließen nun allsonntäglich außerhalb des malerischen gotischen Pförtchens der Umfassungsmauer des Kirchleins die feiertäglich geputzten Dorfbewohner beim Gang zur Kirche Revue passieren.

Die Verwertung so mancher Motive in berühmt gewordenen Bildern ward von der darauf stolzen Bevölkerung keineswegs vergessen und lebt in der Tradition fort. An den mit prächtigen Eichen bestandenen Abhängen zu beiden Seiten des Schwalmflüßchens ward uns denn auch bald diejenige Jakob Beckers bezeichnet, welche zu dessen berühmtem Bilde „Der blitzerschlagene Schäfer“ die Studie abgegeben.

Die Schwälmer Tracht besitzt den Vorzug eines ausgesprochenen kostümlichen und doch durchaus malerischen Charakters. Während in Oberbayern, wie z. B. in Miesbach. die goldenen Schnüre und Quasten, wie die stark bunten Farben der Tücher, Röcke und Schürzen sehr an Theater erinnern, die steifen Mieder, bauschigen Ärmel und langen Röcke der Weiber und Mädchen keineswegs schön sind, noch der Figur zum Vorteil gereichen, ist der Bauer wie die Bäuerin der Schwalm im Sonntagsstaat und bei der Feldarbeit von gleich malerischer Erscheinung.

Lange wird freilich auch diese kostümliche Oase des Hessenlandes dem nivellierenden Ansturm der Neuzeit nicht mehr widerstehen und wenn die heutige Mode des Impressionismus in der Kunst sich wieder überlebt hat, so wird man, aus der inzwischen impressionistisch nüchtern gcwordenen Wirklichkeit zu den Meisterwerken eines Knaus flüchtend, sich vergeblich die Zeit, da die Liebe des Landvolks zur heimischen Tracht dem deutschen Genrebild wie den deutschen Gauen selbst einen erhöhten Reiz verlieh, zurückwünschen.

Karl Raupp, der Autor dieses Textes, hat Recht behalten. Nicht alleine die Schwälmer Tracht ist aus Willingshausen verschwunden. Das Bild des Dorfes ist vielen Wandlungen unterworfen seit seiner frühen Reisebeschreibung. Dieser Text-Bild-Beitrag zeigt eine phantastische Reise, in der sich visuell Vergangenheit und Gegenwart durchdringen. Dazu wurden Fotografien von Häusern und Ensembles von heute mit Gemälden, Zeichnungen und anderen Darstellungen als Sternbald-Fotomontagen vereint. Fotografien von Hartwig Bambey © 2023.

Wer Interesse hat das heutige Willingshausen kennen zu lernen, kann einfach hinfahren. Ein umfassendes Programm mit Führung (1 Tag, 2 Tage, Wochenende) kann als Sternbald-Erlebnisreise für Gruppen gebucht werden. Anfrage per E-Mail bitte an bestellungen@sternbald-verlag.de