22-02-2023 | von Angelika Baeumerth | In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in jedem Dorf der Schwalm noch etliche gute Stickerinnen.(1) einem weiteren Kreis bekannt geworden ist aber nur die Stickerin Marthlies Dörr. Nicht zufällig war Willingshausen, die Malerkolonie in der Schwalm, ihr Heimatdorf.
„Mittlerin zwischen Bauern und Künstlern“
Marthlies Dörr wurde am 3. Oktober 1877 als Tochter des Wagners Heinrich Dörr in Willingshausen geboren. Den Vater haben schon die Maler Hans Richard von Volkmann und Hermann Kätelhön in Werken festgehalten, die heute im Willingshäuser Malerstübchcn aufbewahrt werden.
Als junges Mädchen kam Marthlies Dörr in das Gasthaus Haase, in dem die Willingshäuser Maler ein und aus gingen und ihr „Malerstübchen“ etabliert hatten. Hier arbeitete sie während des Sommers in der Küche und sorgte so viele Jahre lang für das leibliche Wohl der „Willingshäuser“ Maler. (2) Diese wußten die Dienste des als „ bienenfleißig“ beschriebenen, unermüdlichen und noch dazu „stets schlagfertigen und humorvollen“ Mädchens zu schätzen. Marthlies half, wo sie konnte: ,,Sie räumte ihre mehr oder weniger unordentlichen Stuben auf. Sie stand ihnen Modell, sie nähte, flickte und stickte.“ (3) Kurz: Sie war geschätzt, nicht zuletzt weil ihr Wesen die Vorstellungen der bürgerlichen ( und damals in Willingshausen ausschließlich männlichen) Maler vom einfachen Landmädchen bestätigte.
Hinzu kam, daß Marthlies Dörr „regsten Anteil am Schaffen der Maler“ nahm, bei der Auswahl von Modellen half und den Malern, wie Bantzer sagte, ,,manch guten Rat bei der Auswahl“ gab. Daher war sie im Kreis der Künstler als Freundin und Mittlerin hochgeschätzt. Entschieden zu hoch gegriffen ist jedoch die Einschätzung W. v. Reitzensteins: „Indem sie diente, wurde sie nach und nach unmerklich zur Herrin. Und indem sie herrschte, war sie zugleich eine unerschöpfliche Spenderin“. (5) Auch mutet es sehr akademisch an, Marthlies Dörr – als „Zuträgerin“ – mit Dorothea Viehmann, der Märchenerzählerin aus Niederzwehren, zu vergleichen: ,,Was die Viehmännin in Niederzwehren den Brüdern Grimm war, das war und ist in anderer Art, doch nicht minder bedeutend, Marthlies Dörr den Willingshäuser Malern“. (6)
Marthlies Dörr und die Maler waren vor allem und ganz unpathetisch Freunde. Wie groß diese Freundschaft war, geht aus dem Bericht Carl Bantzers von der Reaktion der Marthlies Dörr auf den plötzlichen Tod des Malers Eysoldt hervor: ,,Dörrs Marthlies, zu der er (Eysoldt) eine tiefe und reine Liebe gehabt hatte, schluchzte den ganzen Tag, als sie … die Todesanzeige erhalten hatte“. (7)
Mit ihren Malerfreunden stand Marthlies Dörr über viele Jahre hinweg in Briefwechsel und freute sich über jeden Besuch. (8) Sie selbst besuchte Carl Bantzer in Dresden, Prof. Sieveking in Zürich, sie sah Hamburg und Lübeck und war mehrfach Gast bei Ubbelohdes in Goßfelden und bei Zellers am Chiemsee.(9)
Zu dem Maler Wolfgang Zeller muß Marthlies Dörr eine besonders enge Beziehung ge-habt haben. Davon zeugen nicht zuletzt mehrere Porträts der Stickerin von der Hand Zellers. Dafür spricht auch, daß Marthlies Dörr dem seit 1929 wieder jährlich in Willingshausen weilenden Maler Unterkunft gewährte. (10) Als Zeller später ganz nach Willingshausen übersiedelte, blieb er dem Haus treu und ließ sich von der Nichte Marthlies Dörrs, Anna Katharina Kalbfleisch, umsorgen.
Aber „nicht Allen gab sie einen dauernden Platz in ihrem Herzen. Sie hielt es nur mit vornehmen Gemütern, mochten sie nach außen auch noch so rauh und seltsam erscheinen. Wem sie aber ihre Freundschaft gab, der blieb, wie es besonders Waentig und Zeller erfuhren, zeitlebens ihr Freund … „ (11)
Als Zeichen des Dankes erhielt Marthlies Dörr von den Malern „Bildgeschenke“, und es hingen in ihrem „Stübchen“ schließlich Originale und Reproduktionen von Werken Bantzers, Thielmanns, Giebels, Kätelhöns, Waentigs und Zellers.(12)
Marthlies Dörr als Stickerin
Zweifellos profitierte auch Marthlies Dörr selbst vom Umgang mit Kunst und Künstlern. Dennoch war es kühn zu behaupten, durch diesen Umgang sei „sie mit den Jahren aus einer einfachen Bäuerin zu einer wirklichen Künstlerin geworden, in der das Gewicht des Talentes dem des Charakters durchaus die Waage hielt“. (13)
Tatsache war, daß Marthlies als Dreizehnjährige von einer Berufsstickerin in die Anfangsgründe der Schwälmer Stickerei eingeführt worden war. Vermutlich stickte sie dann, wie viele Mädchen und Frauen, (14) neben ihrer Tätigkeit als Magd im Gasthaus Haase noch Auftragsarbeiten. Außerdem unterrichtete sie die jungen Mädchen des Dorfes im Sticken. Als das Wirtshaus Haase 1927 aufgegeben wurde, machte sie den Neben- zum Haupterwerb.
Seit frühester Jugend hatte Marthlies Dörr ein sehr ausgeprägtes Interesse für die kunstvollen Stickereien ihrer Vorfahren gezeigt. Jetzt schickte sie sich an, ihnen nachzuspüren und nachzueifern. Carl Bantzer notierte: ,,Das Marthlies Dörr ist jetzt ausschließlich Stickerin. Mit feinstem Stilgefühl schafft sie die schönen alten Schwälmer Stickmuster immer neu.“(15)
Die Befähigung der Marthlies Dörr als Stickerin wurde von den Malern mit Respekt und Anerkennung wahrgenommen. Es muß jedoch entschieden bezweifelt werden, daß die Maler „ihre Werke stets auf gleiche Stufe mit ihren eigenen Kunstwerken“ stellten.(16) Dass dies nicht der Fall gewesen sein kann, wird bewiesen durch die Tatsache, dass Marthlies Dörr nie als Mitglied der Vereinigung Malerstübchen zur Diskussion stand. Dagegen war die Witwe des Malers Wilhelm Thielmann aktives Mitglied dieser Vereinigung, was besonders deshalb von Interesse ist, weil diese beiden Frauen eines verband: die Stickerei.
Nach dem Tod ihres Mannes hatte sich Alexandra Thielmann ( l881-1966) vor die Notwendigkeit des selbständigen Gelderwerbs gestellt gesehen. Der Gedanke, es den Schwälmerinnen gleich zu machen, zeigt wie sehr sich die aus Bad Wildunger bürgerlichen Verhältnissen stammende Malersfrau den lokalen Gegebenheiten angepaßt hatte. ,,Es lebte da im Dorf eine bäuerliche Trachtenfrau, die als Stickerin einen Namen hatte, Martlies Dörr, die in ihrer Jugend die Maler betreute. Erfahren im Schmuckwesen der äußerst komplizierten Tracht, vor allem des Heiratsgutes der Frauen, wurde sie zur Anleiterin und Beraterin der Malersfrau.“ (17)
1924 eröffnete Alexandra Thielmann, selber zur Meisterin geworden, in Willingshausen eine Werkstatt für Stickerei, in der sie Schwälmer Mädchen ausbildete und beschäftigte. Um ihre Erzeugnisse auf den Markt zu bringen, reiste Alexandra Thielmann in die GroßsLädte „und war bald ständige Vertreterin hessischer Volkskunst auf der Leipziger Messe. Es gelang ihr so, eine Brücke von der bäuerlichen zur städtischen Kultur zu schlagen, denn sie begann unverzüglich mit der Verfeinerung und Auszierung der Muster für städtischen Gebrauch. So entstanden Tafeltücher und Gedecke edelster Art, Kissenbezüge usw., aber auch Kinderkittel und entzückende Trachtenpuppen, die später auch den Beifall der amerikanischen Besatzung fanden … „
Im Unterschied dazu blieb Marthlies Dörr bei der Fertigung traditioneller Schwälmer und nicht auf städtische Bedürfnisse zugeschnittener Stickereien.
Das Wirken von Marthlies Dörr als Stickerin beschränkte sich nicht auf ihr Heimatdorf und auf die gelegentlichen Auftragsarbeiten außerhalb. Sie stellte sich auch Dörr 1936 von der Arbeitsgemeinschaft Volkskunst der Volksbildungsstätte Kassel nach Kassel eingeladen, ,,um als Abschluß einer Reihe volkskundlicher Vorträge einen kurzen Lehrgang über die Grundtechnik Schwälmer Bauernstickerei abzuhalten“. Der Berichterstatter notierte in zeitgemäßer Begeisterung: ,,Ihre mitgebrachten Arbeiten sind ein sprechender Beweis dafür, welche Wunderwerke diese bodenständige echte Bauernkunst schaffen, welche unerhört schwierige und mühselige Techniken die Hand, die sommertags auch bei der Feldarbeit zuzupacken versteht, zu meistern vermag“.
Die kurhessische Landeszeitung führte aus diesem Anlaß ein Interview mit Marthlies Dörr, das hier vollständig wiedergegeben werden soll, in der Hoffnung, daß es weitgehend authentisch ist. (19)
Interview mit Marthlies Dörr, 1936
„Ich sticke schon seit meinem dreizehnten Lebensjahr von meiner Urgroßmutter, die eine ausgezeichnete Stickerin war, ist mir diese Fertigkeit und die Lust daran vererbt worden. Mein Vater war dreißig Jahre lang Gemeinderechnungsführer in Willingshausen. Auch er interessierte sich immer mehr für Bücher, vor allem für geschichtliche und volkskundliche, denn für Bauernarbeit. Und so ist es wohl gekommen, daß der Wunsch, einmal eine gute Bäuerin auf einem Schwälmer Hof zu werden, zurücktrat vor der Liebe zu meiner Stickerei und dem Interesse an Buch und Schrift. Selbstverständlich kenne ich mich auch in allen Hofarbeiten gründlich aus, denn ich lebe ja mit auf dem Anwesen meines Bruders (richtig: Schwager (20), und wenn sommertags Not am Manne ist, dann springe ich natürlich immer mit ein, sonst aber sitze ich am Stickrahmen.
Schon als Dreizehnjährige habe ich bei einer Berufsstickerin, deren es in jedem Dorf eine oder auch zwei gibt, die Technik gelernt. Von meinem fünfzehnten Lebensjahr ab aber habe ich selbst den ganzen Mädchen das Sticken beigebracht.“
„Und was arbeiten Sie nun in der Hauptsache?“
,,Zunächst natürlich alle Stickereien für die Tracht unserer Frauen und Mädchen. Da sind die zumeist sehr reich mit Goldfaden reiche Bauerntöchter und -fraucn tuen es nicht unter echtem Gold und viel bunten Perlen bestickten Bruststücke für die Festkleider, da sind die nicht minder kunstvoll und kostbar gearbeiteten Ecken, die man über der weißen (21) Leinenschürze trägt. Da ist das Mieder mit seinen weiten, reich bestickten Ärmeln, und da sind schließlich die kleinen Käppchen, die leider seit Urgroßmutters Zeiten, als man noch ebenso kunstvoll handgearbeitete, wie kleidsame Häubchen trug, heute nur noch ein winziges Fragment des ehemaligen Kopfputzes sind. Es sind lustige bunte Strumpfbänder zu sticken und Zierknöpfe herzustellen, wozu man eine Holzform nach verschiedenen Mustern mit Seidenfäden umspannt.
Eine Fülle von Arbeit. Und dabei habe ich noch die langen weißen handgestrickten Strümpfe vergessen, für die man sich –das ist Ehrensache – immer wieder eine neue Strickarbeit ausdenkt! Auf die gleiche Weise werden auch die weißen Handschuhe für den Winter gearbeitet, die neuerdings auch in der Großstadt sehr begehrt sind.“
„Fertigen Sie denn auch die Stickereien für die blauen Leinenkittel der Männer an, in denen diese sommertags hinter ihren Buttertischen am Königsplatz stehen?“
„Noch nicht! Die einzige Stickerei, die wir Frauen nicht ausführen! Die Achselstücke, Hals-und Armbündchen gehören mit zur Arbeit des Schneiders, der auch die reich mit Stickereien versehenen Kamisols, die unsere Männer zum Kirchgang tragen, herstellt.“
„Haben Sie eigentlich bestimmte Muster, nach denen Sie all die schönen Dinge arbeiten?“
„Gewiß! In den meisten Familien werden, von Generation auf Generation vererbt, besonders wertvolle Handarbeiten mit alten überlieferten Bauernmustern verwahrt. Die benutze ich natürlich als Grundlage. Trotzdem wandle ich dieses Muster nach meiner Phantasie ab und denke mir für jede Stickerei immer wieder etwas Neues aus! Und es ist mein ganzer Stolz und mein Bestreben, daß ich in meinen Arbeiten so wenig wie möglich Konzessionen an den modernen Geschmack der Großstadt mache.“
„Und verkaufen Sie nun auch viel von Ihren Arbeiten? Haben Sie gute Abnehmer dafür?“
,,Ich schicke viele meiner Dinge auf Ausstellungen, und zwar meistens zusammen mit den Stickereien der Stickschule der Frau des Professors Thielmann in Willingshausen, die als Malerin viel Interesse und große Liebe an unserer Schwälmer Volkskunst fand und heute selbst die schönsten Muster entwirft und in ihrer Stickschule ausführen läßt. Die Arbeiten ihrer Schule haben im Reich guten Ruf, und wenn ihre Stickereien auf Ausstellungen wandern, dann ist meistens – wie auch unlängst auf der großen Hessenschau in Berlin – ein Korb von meinen Arbeiten mit dabei. Oft fahre ich dann auch selbst mit in die Großstädte und erzähle von unserem Schaffen und führe etwas von der Technik vor.“
„Also ist die ruhelose Großstadt für Sie in ihrem idyllischen Schwalmdörfchen auch gar nichts Fremdes?“
„0 nein! Ich bin sogar schon in der Schweiz gewesen. Vier Monate habe ich in Zürich im Auftrag einer Dame, die einmal bei uns in Willingshausen war, allerhand Weißstickereien gearbeitet“.
„Alle Achtung“ Sie sind ja eine weitgcreiste Frau. Sicherlich bekommen Sie auch während der Sommermonate so manchen Besuch, den der Ruf Ihrer schönen Arbeiten und die Neugier in Ihr Stübchen treibt?“
,,Und ob! Viele Sommerfrischler schauen sich meine Stickereien an. Dann kommen auch Professoren der Universitäten Frankfurt und Marburg und lassen sich von mir über Schwälmer Sitten und Gebräuche berichten. Manche Aufnahme ist schon gemacht worden von den Dingen, die ich noch aus Urgroßmutters Tagen aufbewahre. Man hat meine Hände bei der Arbeit photographiert. Und der bayrische Maler namens Zeller (22) hat mich in meinem Stübchen am Stickrahmen gemalt.
Ein Marburger Baurat (23) hat von einer besonders wohlge/ungenen Arbeit, einem gestickten Handtuch, eine Lichtpause angefertigt, weil Schlichtheit emd Schönheit des Entwurfs so gefielen. Manche Frau hat sich diese Pause schon ausgeliehen und danach zu sticken versucht, aber etwas Rechtes ist halt nie daraus geworden.“
Vom Nachleben der Marthlies Dörr
Am 19. Januar 1939 starb Marthlies Dörr. Noch im April 1941 schrieb Bantzer an Zeller: ,,Das gute Marthlies fehlt uns sehr“. (24)
Unterdessen hatte der sich zu den Willingshäusern hingezogen fühlende Kasseler Schriftsteller Werner Freiherr von Reitzenstein in der Zeitschrift „Hessenland“ einen biographischen Nachruf auf Marthlies Dörr verfaßt; wir haben bereits des öfteren aus dieser im höchsten Maße ihrer Entstehungszcit verpflichteten Arbeit zitiert. Bantzer, der das Manuskript zur Durchsicht erhielt, schrieb, daß der Aufsatz „sehr warmherzig und besser ist, als ich von dem alles ins Heroische steigernden Reitzenstein erwartet hatte. Sehr schön ist besonders der Anfang des Aufsatzes“. Aus jedem weiteren Satz geht jedoch hervor, daß Bantzer dem Beitrag eher reserviert gegenüberstand. Zum Schluß urteilte er: ,,Ich für meine Person sehe alles an Marthlies schlichter und dadurch echter“. (25) Dennoch empfand Carl Bantzer als „die besten Worte für das Marthlies“ den von zeitbedingtcn Allgemeinplätzen nicht freien Nachruf aus dem Munde von Hermann Kätelhön. (26): ,,In voller Reinheit und unbewußt schaffte und gestaltete sie aus dem Born, der unser ganzes Volk tränkt. In ihr war noch alles lebendig, was uns alle zum künstlerischen Schaffen zwingt“. (27)
Das Erscheinen des Reitzenstein‘schen Textes ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wegen seiner Länge von sechs Druckseiten, die aus dem Nachruf einen veritablen Aufsatz, eine Biographie machte. Zum anderen, daß er überhaupt in einer Zeitschrift wie „Hessenland“ abgedruckt wurde. Dieses war zweifellos auf die tatsächliche oder vermeintliche Wertschätzung der Volkskunst durch die neuen Machthaber zurückzuführen, auf deren Geschmack der Beitrag auf weiten Strecken zugeschnitten ist.
Marthlies Dörr lebt aber noch auf andere Art weiter: im Bild, genauer in den Gemälden, Zeichnungen und Fotografien der „Willingshäuser“. Es soll insgesamt sieben größere Bilder von ihr geben oder gegeben haben: eines von Heinrich Giebel, fünf von Wolfgang Zeller, eines von Walter Waentig und viele Zeichnungen von Wilhelm Thielmann. (28) Carl Bantzer dagegen hat Marthlies Dörr überhaupt nicht gezeichnet oder gemalt.
Am bekanntesten wurde Heinrich Giebels Gemälde „Die Stickerin Marthlies Dörr“ aus dem Jahr 1926. (29) Sie ist mit ihrem Stickrahmen am Fenster sitzend dargestellt. (Abb. 126) Wie das seitenverkehrte Gegenstück zu diesem Gemälde wirkt eine der Fotografien von Margarethe Dieffenbach (Abb. 125). (30) „Im Unterschied zu Heinrich Giebels Porträt sind Einzelheiten des Stickwerks sichtbar. Frau Dörr arbeitet an verschiedenen Bändern und Kappenbödcn, die mit Buntstickereien ausgeschmückt werden. Im Vergleich zu dem Foto scheint Giebels Gemälde durch seine künstlerische Aufbereitung und Gestaltung ein weniger authentisches Bild der Arbeitssituation von Frau Dörr zu liefern“. (31) Heinrich Giebels Intentionen gingen nicht dahin, die Tätigkeit der Stickerin zu dokumentieren, wenn er sie auch bei der Arbeit zeigte. Ihm ging es um die Persönlichkeit; und so war es sicher kein Zufall, daß ihr Porträt, wie glaubhaft versichert wurde (32), ,,absolut ähnlich“ ausfiel. Durch die Überlieferung sowohl des Fotos als auch des Gemäldes wird klar, auf welche Weise Giebel Abstraktionen und Schönungen der Realität vorgenommen hat.
Signifikant ist die Wiedergabe des Fensters, das bei Giebel fast die gesamte Bildbreite einnimmt und die Person der Stickerin einschließlich Stickrahmen und Stuhl voll hinterfangt. So wird, im Gegensatz zur spärlichen Lichtquelle der Fotografie, das Fenster zum Motiv, vor dem sich das Geschehen abspielt. Es ist deshalb wichtig zu beobachten, daß Heinrich Giebel auf alles in der Realität vorhandene Detail, wie Blumentopf und Fensterrahmen, verzichtet hat, dagegen aber der Gardine eine lichte Fülle verlieh, die erheblich zur heiteren Bildwirkung beiträgt, die nicht zuletzt durch den Ausblick auf einen frühlingshaft wirkenden Garten unterstrichen wird. Auch bei der Darstellung der Person der Stickerin war Giebel um die Vermittlung eines heiteren, nicht an Arbeit denken lassenden Eindrucks bemüht. Auffallend ist insbesondere das fast graziös wirkende Spiel der Hände. Während auf der Fotografie von Dieffenbach von der stikckenden Hand nur die runde Faust zu sehen ist, zeigt Giebel die differenziert gebeugten und ausgestreckten Finger von Händen, die keiner Frau vom Lande zu gehören scheinen.
Marthlies Dörr hat offenbar sehr wohl verstanden, warum man „meine Hände bei der Arbeit photographiert“ hat, denn sie berichtete in dem oben wiedergegebenen Interview davon. (33) Die Fotografin, Margarethe Dieffenbach, hat wiederholt das Augenmerk des Betrachters auf die Hände der Stickerin gelenkt. Doch so, daß nicht etwa eine Klärung des Stickvorgangs beabsichtigt gewesen sein kann, denn es lassen sich nicht einmal Nadel und Faden erkennen; sondern so, daß die offensichtlich an Arbeit gewöhnten Hände im Kontrast zur Feinheit und Schönheit der herzustellenden Stickwerke ins Auge fallen. Aus diesem Kontrast sollte die Fotografie ihre Aussagekraft als „Allegorie der Arbeit“ beziehen.
Außer Heinrich Giebel soll, nach Aussage von Marthlies Dörr, auch Wolfgang Zeller die Stickerin in ihrem „Stübchen“ am Stickrahmen gemalt haben. (34) Ein weiteres Gemälde Zellers ist als Porträt der älteren Marthlies Dörr aufzufassen, aus dem das für diesen Maler charakteristische Interesse an der Erfassung der Persönlichkeit durch die Wiedergabe ihrer Gesichtszüge spricht. Wolfgang Zeller hat sich am eingehendsten um die bildnerische Erfassung des Wesens und Charakters von Marthlies Dörr bemüht.
Zeller ging es auch dann noch um persönliche Befindlichkeiten, wenn die Situation zu einer ganz anderen Art der Darstellung geradezu verlockten. So hat er bei dem Aquarell „Kind im Festschmuck“ von 1934 zwar die Stickerin Marthlies Dörr in ihrer Funktion als „Schappelfrau“ und auch das von ihr „gebretterte“ Kind im Schmuck seiner festlichen Tracht wiedergegeben. Aber letztendlich geriet ihm doch die Gestalt der Marthlies Dörr zu einem Dokument der Gewissenhaftigkeit und der selbstverständlichen Pflichterfüllung, das kleine Mädchen hingegen zur Verkörperung der Duldsamkeit und vielleicht auch der prüfenden Frage nach dem Sinn der Tradition.
Von dergleichen Gefühlen unbehelligt bleiben die in nahezu derselben Situation dargestellten Personen auf Walter Waentigs Gemälde „Kathrin wird gebrettert“. Wieder ist es Marthlies Dörr, die bei der festtäglichen Ausstaffierung des kleinen Mädchens Kathrin Wagner letzte Hand anlegt. Für die Aussage dieses Bildes ist es wichtig, daß nicht irgendein Zwischenstadium wiedergegeben wird, sondern die Endphase. Dem Maler geht es darum, das Kind zu präsentieren. ,,Das prunkvolle Erscheinungsbild wird hierbei mit der Tätigkeit der Näherin in einen realen Zusammenhang gebracht, die Arbeit wird aber weitgehend in Form eines Ergebnisses im Bild thematisiert“. (35) Nicht absichtslos hat deshalb Waentig nicht, wie Zeller, die leichte Seitenansicht gewählt, sondern die frontale. Während sich die hinter dem Mädchen sitzende „Schappelfrau“ mit dem Kopf leicht aus der Bildmitte neigt, aber durch das von rechts einfallende Licht noch hinlänglich hervorgehoben wird, steht das „gebretterte“ Mädchen aufrecht in der Bildmitte. Als habe die Stickerin einen Leistungsnachweis zu erbringen, wird das Kind als Objekt der Schaulust dem Betrachter präsentiert. Walter Waentig faßte die schappelndc Marthlies als Produzentin eines ,,Kunstwerks“ auf, das in Gestalt des in Festtagstracht gekleideten Mädchens zum Mittelpunkt des Bildgeschehens erhoben wurde.
Die beachtliche Zahl der bildlichen Wiedergaben von Marthlies Dörr legt die Frage nahe, warum sie – und nicht etwa die in gleicher Weise tätige Alexandra Thielmann – so oft und intensiv das Interesse der Maler und Fotografen erregte. Aus der Analyse der Bilder darf die These formuliert werden, daß es den Künstlern erst in zweiter Linie um ihre Tätigkeit als Stickerin ging. In erster Linie interessant war Marthlies Dörr aufgrund ihrer bäuerlichen Ausstrahlung, d.h. aufgrund des äußerlichen Faktums, daß sie die Tracht trug, die sie als Angehörige der bäuerlichen Gesellschaft in der Schwalm auswies. Damit war sie für die Bildkünstler der 1930er Jahre von genau demselben Interesse wie der Müller Schmidt aus Merzhausen, von dem eine ähnlich große Anzahl von Bildbelegen wie von Marthlies Dörr aus Willingshausen überliefert ist. (36)
Literatur
Pflegemulter bodenständiger Heimatkunst. Ein Besuch bei Martlies Dörr aus Willingshausen während ihres Kasseler Aufenthalts.
In: Kurhessische Landeszeitung, Heimatzeitung, 22.1.1936 (In: HStA Marburg, 304 Bantzcr, 85)
Carl Bantzer: Hessen in der deutschen Malerei. 2. Ausgabe. Marburg 1939,S. 79-80
Werner Freiherr von Reitzenstcin: Marthlies Dörr, der Schwälmer Stickerin und Malerfreundin zum Gedächtnis. In: Hessenland, Jg. 49. Marburg 1938, S. 100 – 105
Adolf Spamer: Hessische Volkskunst.Jena 1939
Karl Rumpf: Deutsche Volkskunst Hessen. Neue Folge. Marburg/Lahn 1951, bes. S. 16
Konrad Kaiser: Die Malerkolonic Willingshausen. Kassel 1980
Andreas Bantzer (Hrsg.): Carl Bantzer. Ein Leben in Briefen. Ahnatal 1983
August Gandert/Brunhilde Miehe: Handwerk und Volkskunst in der Schwalm. Schwalmstadt o.J. ( 1983), bes. S. 102 ff.
Wolfgang Seheilmann u.a.: Margarethe Dieffcnbach. Hessischer Trachtenalltag. Tracht als Spiegel ländlicher Lebensweisen 1925 – 1935. Frankfurt am Main 1983, bes. S. 164 ff.
Bettina von Andrian-Werburg: Sehwälmer Arbeitswelt in der Sicht der Willingshäuser Künstler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diss. Marburg 1990, bes. S. 138 ff.
Anmerkungen
1 Aussage von Marianne Heinemann, Tochter des Malers Wilhelm Thielmann und der Leiterin der Werkstatt für Stickerei in Willingshausen, Alexandra Thielmann, in einem Brief an die Verfasserin. Die Recherchen für diesen Beitrag gestalteten sich schwieriger als zunächst vermutet, da sich die umfassendste Arbeit über Marthlies Dörr, von W. v. Reitzenstein, immer mehr als nicht nur tendenziöse, sondern auch unrichtige Darstellung herausstellte.Ganz besonders zu verdanken habe ich diese Erkenntnis den Korrekturen und Aussagen von Marianne Heinemann und Anna Katharina Grein, beide in Willingshausen. Für Unterstützung zu danken habe ich auch Petra Bambey, Frielendorf, und Ulla Merle, Marburg.2 Bantzer, Hessen, S. 79; Reitzenstein, S. I O 1. Nach Bantzer war Marthlies Dörr „einige Jahrzehnte“, nach von Reitzenstein nur 15 Jahre nur 15 Jahre lang im Gasthaus Haase beschäftigt.
3 Reitzenstein, S. 102
4 Bantzer, Briefe, S. 324; Reitzenstein, S. I 04
5 Reitzenstein, S. 101
6 Reitzenstein, S. 101
7 Bantzer, Hessen, S. 289. Frühere Erwähnungen von „Marthlies“ durch Bantzer wurden hier außer acht gelassen, da offensichtlich zwei Personen gleichen Vornamens existierten, die ohne Nennung des Nachnamens nicht eindeutig identifiziert werden können.
8 Bantzer, Briefe, S. 80
9 Reitzenstein, S. 104
10 Bantzer, Briefe, S. 3 I 9
11 Reitzenstein, S. 101
12 Reitzenstein, S. 102
13 Reitzenstein, S. 102
14 von Andrian, S. 141
15 Bantzer, Hessen, S. 80
16 Reitzenstein, S. 105
17 Werner von Reitzenstein: Bäuerliche Kunst im Blickpunkt unserer Zeit, eine Studie zum 30jährigen Bestehen der Thielmann‘schen Werkstatt in Willingshausen. In: Hessische Heimat, H. 3, 1957/58, S. 14 – 18; Heinz Rübeling: Zum 85. Geburtstag von Frau Alexandra Thielmann, Hüterin hessischer Volkskunst. In: Hessische Heimat, Jg. 16, H. 2. Marburg 1966, S. 64–67; Luise Pickert: Frau Alexandra Thielmann zum 80. Geburtstag am 4. Juli 1961. In: Hessische Heimat, Jg. 11, H. 4. Marburg 1961, S. 31
18 Reitzenstein, S. 104
19 Kurhessische Landeszeitung 22.1.1936
20 Auskunft von M. Heinemann, Willingshausen
21 M. Heinemann: Es muß heißen ,,dunkelen Leinenschürze“.
22 Gemeint ist der damals in Übersee am Chiemsee wohnende Maler Wolfgang Zeller, der aus Plauen/Vogtland gebürtig war und schon um die Jahrhundertwende mit Carl Bantzer nach Willingshausen kam, wohin er im Alter übersiedelte, starb und begraben liegt.
23 Gemeint ist offenbar Karl Rumpf, der in seinem Werk ,,Deutsche Volkskunst – Hessen“ Marthlies Dörr erwähnt (S. I6) und eine Stickarbeit von ihr abbildet (Abb. 39); außerdem weitere Schwälmer Arbeiten, u.a. aus Willingshausen. Diese Abbildungen auch bei Rumpf, Weißstickereien, Taf. 24 28 u. bes. Taf. 29
24 Bantzer, Briefe, S. 339
25 Bantzer, Briefe, S. 323-324
26 Bantzer, Briefe, S. 323
27 Zitiert nach Reitzenstein, S. 100
28 Reitzenstein, S. 105
29 Das Gemälde befand sich im Universitätsmuseum Marburg. Laut Notiz im Bildarchiv Foto Marburg zerstört. Es existiert nur noch das Foto einer Besucherin.
Abbildungen in: Bantzer, Hessen, S. 79-80; von Reitzenstein, S. 104; Rumpf, Weißstickereien, Titelbild; Martin Giebel: Heinrich Giebel. In: Schwälmer Jahrbuch 1978, S. 149; von Andrian, S. 142-143
30 Spamer, Vorsatzblatt; von Andrian, S. 143; fälschlich als Fotografie von Wolfgang Zeller (Quelle: .,Antiquariat“) bezeichnet von Jürgen Wollmann: Die Willingshäuser Malerkolonie und die Malerkolonie Kleinsassen, S. 466
31 von Andrian,S. 143
32 Aussage von Marianne Heinemann, Willingshausen.
33 Gemeint sind die Fotografien von Margarethe Dieffenbach. Siehe Abb. in diesem Heft. Schwalmstadt o.J. ( 1992), S. 466
34 Kurhessische Landeszeitung, 22.1.1936. – Der Verbleib des Werkes ist unbekannt.
35 von Andrian, S. 149-150
36 Angelika Baeumerth/Claudia Gabriele Philipp: Ein Müller als Modell. In: Th. Hans-Dieter Scholz: Wasser- und Windmühlen in Kurhessen und Waldeck-Pyrmont, Bd. 1. Kaufungen
1991, S. 236-245
Bildnachweis
Privatbesitz: 117, 119, 124 Bildarchiv Foto Marburg: 126
Foto K. Baeumerth: 127
Aus Karl Rumpf, Weißstickereien, Taf. 29: 120
Aus Wolfgang Schellmann, Margarethe Dieffenbach, S. 168-170: 121, 123
Aus Adolf Spamer, Hessische Volkskunst, Vorsatzblatt: 125
Aus Reitzenstein, Marthlies Dörr, s. 101, 103, 128, 129.