19-02-2023 | Als Hüterin hessischer Volkskunst bezeichnete Heinz Rübeling in einem Artikel in der Hessischen Heimat (Heft 2 -1966) Alexandra Thielmann in Willingshausen. Dieser Beitrag ist hier in Auszügen veröffentlicht: Versteckt und abseits vom großen Verkehr liegt Willingshausen, das kleine Malerdorf, das den Besucher wie ein Gruß aus längst vergangenen Zeiten anmutet, Wiesen und Fluren, die das Dorf umgeben, sind umsäumt von herrlichen Buchenwäldern und unten im Tal fließt in unregelmäßigen Windungen die kleine Antreff.
Draussen im Feld oder im Dorf trifft man heute noch hier und da einen älteren Bauern im blauen Kittel oder Frauen in dieser einst so stolzen und malerischen Tracht Inmitten des Dorfes, dicht bei der Kirche, liegt versteckt hinter mächtigen Kastanien das Schloß des alten hessischen Adelsgeschlechtes von Schwertzell, hier wohnte einst der Begründer der Willingshäuser Malerkolonie, Gerhard von Reutern, und hier waren oft die Gebrüder Grimm zu Gast, wo sie einen Teil ihrer inzwischen weltbekannten Märchen sammelten und aufschrieben. Enge Freundschaftsbande zur Familie von Schwertzell und zu Gerhard von Reutern führten auch des öfteren ihren Bruder, den Maler Ludwig Emil Grimm, hierher, der dort reizvolle Bilder schuf.

Einer, den es auch immer nach dem abseits gelegenen Willingshausen zog, war der bekannte am 10. März 1868 in Herborn als Sohn einfacher Eltern geborene Prof. Wilhelm Thielmann, der diesen Fleck Erde so in sein Künstlerherz eingeschlossen hatte, dass er sich für immer dort niederließ. Thielmann, der 1924 im Alter von 56 Jahren starb, war neben Bantzer einer der bedeutendsten hessischen Maler der Willingshäuser Schule … Seine Gattin, Frau Alexandra Thielmann, bleibt nach dem Tod ihres Mannes in Willingshausen und wendet sich der Schwälmer Weiß-und Leinenstickerei zu, um hiermit ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Werner Freiherr von Reitzenstein schreibt hierzu in der „Hessischen Heimat“ (Heft 3 – 1957 /58):
,,Unter dem Einfluß des Willingshäuser Malerkreises vertiefte sich Frau Thielmann intensiv in das eigenartige Schwälmer Brauchtum. Seltsamerweise war es zunächst weniger die Farbenglut der Schwälmer Festtrachten und ihre Stickereien in Seide und Goldbrokat, sondern die edle Leinenstickerei mit ihren reichverzierten Grundmotiven, die Alexandra Thielmann in ihren Bann zog.
So wie die großen Sinfoniker immer wieder auf die Grundthemen volksliedhafter Motive zurückgriffen, um ihre Durchführung zu nähren, so griff die Kunsthandwerkerin in genialem Instinkt auf die ältesten bäuerlichen Zeichen zurück, die sich am naivsten, aber auch am reinsten auf den bäuerlichen Gebrauchsgegenständen und Arbeitsgeräten, Schränken und Truhen vorfanden…Frau Thielmann legte eine Sammlung artgetreuer Zeichnungen all dieser Ornamente und Zeichen an und bewahrte sie vor der Vergessenheit.“ …

Es ergab sich, dass Frau Thielmann in der Willingshäuserin Marthlies Dörr eine hevorragende Stickerin fand, die sie in die Schwälmer Leinenstickerei einführte. Noch heute kann man dort in dörflichen Familien treu behütete Stücke prachtvoller Leinenstickkunst aus der Zeit um etwa 1830 bewundern, beim Betrachten spürt man, dass im Kern des Wesens dieser bäuerlichen Menschen, die scheinbar von einer rauen Schale umgeben sind, schon immer ein Gefühl für Feinheit und Formschönheit mitgeklungen haben mag, das in der Schwälmer Leinenstickerei auf edelste Weise zum Ausdruck gekommen ist.
Sogar auf der Leipziger Messe war die Künstlerin oft zu sehen. wo sie recht zahlreiche Käufer und Interessenten für die Erzeugnisse hessischer Volkskunst fand. „Es gelang ihr so, eine Brücke von der bäuerlichen zur städtischen Kultur zu schlagen denn sie begann unverzüglich mit der Verfeinerung und Auszierung der Muster für städtischen Gebrauch“ (v. Reitzenstein).
Wer als Besucher zu Frau Thielmann kam und ihr Arbeitszimmer die wertvollen Stücke ihrer Werkstatt betrachte konnte, dem schlug das Herz höher, wenn er einen reizvoll bestickten blauen Kinderkittel oder eine ornamenrtreiche tischdecke oder gar eines der mit herrlicher Durchbrucharbeit gezierten Taschentücher oder Tafeldecken betrachten konnte… Fast als ein vollständiges Werkverzeichnis könnte man ein von Frau Thielmann angelegtes Album bezeichnen, in dem in hevorragenden Fotos die wertvollsten und schönsten Stüo zusammengestellt sind, die ihre Werkstatt verließen und den Weg in die weite Welt fanden…
Es ist Frau Thielmanns Verdienst, den großen Schatz hessischer Volkskunst wieder neu belebt und in unsere Tage hinübergeführt zu haben. Mit wohlabgestimmtem künstlerischem Einfühlungsvermögen verstand sie es, den jahrhundertealten unerschöpflichen Ornamentenreichtum dieser bäuerlichen Kunst mit ihrem eigenen schöpferischen Kunstempfinden auf glückliche Art und Weise zu verbinden und Werke von edler Schönheit und einfacher Klarheit zu schaffen.

Die Freunde hessischer Kunst und Volkskunst fanden in all den vergangenen Jahren stets eine offene Tür im Willingshäuser Malerheim. Frau Thielmann war es nicht mehr vergönnt ihren 85. Geburtstag am 4. Juli dieses Jahres zu erleben. Nach einem innerlich reichen und erfüllten Leben starb sie am 18. Januar 1966 in Willingshausen. Ihre sterbliche Hülle bettete man unter recht zahlreicher Teilnahme der Dorfbevölkerung und der ihr nahestehenden Menschen an die Seite ihres Mannes – ihr geistiges Erbe aber und das, was sie ihr Leben lang beseelte, ist heute noch in vielen hessischen Häusern lebendig. Ihr Name wird stets mit der hessischen Volkskunst, deren Bewahrerin und Hüterin sie war, verbunden bleiben.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Heinz Rübeling wurde als Textbeitrag im Begleitheft zur Ausstellung „Schwälmer Weißstickerei“ vom 29. März bis 20. Mai 2002 im Museum der Schwalm zweitveröffentlicht.