Das Dorf und die Moderne

23-07-2023 | Mit dem Begriff Moderne – bezogen auf Architektur und Städtbau – wird die Zeit nach der industriellen Revolution einer sich entfaltenden Industriegesellschaft beschrieben, die nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik verschiedene Stilrichtungen des Bauens, in Kunst und Design hervorgebracht hat.

Viele verbinden das Bauhaus, zunächst in Weimar dann in Dessau, mit dem Begriff der Moderne. Mehr als in nur einer Stilrichtung entfaltete die Moderne gewaltige bis heute anhaltende Wirkkräfte zu Veränderungen in der Gesellschaft. Das hat sprachlich seinen Ausdruck gefunden im Begriff „Modernisierung“.

Der Begriff Moderne und ihre Wirkkräfte sind maßgeblich verbunden mit Städten insbesondere Großstädten. So mag die Formulierung „Das Dorf und die Moderne“ zunächst befremdlich anmuten. Wie sich belegen läßt, ist die Moderne an Dörfern, hier Willingshausen, nicht ohne bauliche Hinterlassenschaften geblieben. Dazu musste freilich einige Zeit vergehen, konkret der Zweite Weltkrieg. Zu dessen Folgen gehörte Zuwanderung aus ehemaligen deutschen Gebieten im Osten. Auch aus Großstädten kam es zu einzelnen Zuwanderungen von Familien, etwa in Folge der Zerstörung von Großstadten wie Dortmund.

Flüchtlinge mussten zunächst per Anordnung in Wohnhäusern mit untergebracht werden. Der einsetzende wirtschaftliche Aufschwung machte staatlichen und privaten Wohnungsbau finanzierbar und möglich. So sind erste „Neubaugebiete“ mit Häusern als Straßenzug in Willingshausen entstanden. Einwohnerzuwachs und Geburten starke Jahrgänge bedeuteten zusätzlichen Raumdedarf in der Dorfschule, meist eine Grundschule für Klassen 1 bis 4. So wurde 1968 eine neue moderne Grundschule in Willingshausen eingeweiht.

Ansichtskarte aus Willingshausen als Beleg der Moderne

Bemerkenswert ist der Niederschlag dessen auf einer anderen Ebene. Das Bild und Abbild des Dorfes – vielhundertfach in Willingshausen von Künstlerhand gezeichnet und gemalt – wird ebenfalls von einer modernen Sichtweise erfasst. Signifikanter Ausdruck davon ist vor allem eine Ansichtskarte aus der Zeit um 1970.

 

 

Eine der zahlreichen Ansichtskarten von Willingshausen aus der riesigen Sammlung von Helmut Brauroth. Der Postbeamte gehörte zu den Gründern des „Stadtgeschichtlichen Arbeitslkreis e.V.“ in Schwalmstadt-Treysa und war viele Jahre als Kassenführer für den Verein engagiert. Persönlich hat sich Helmut Brauroth dem Sammeln von Ansichtskarten mit Leib und Seele zugewendet. Zunächst galt seine Leidenschaft Karten von seiner Heimatstadt Treysa. Als für ihn dazu keine weiteren Motive mehr aufzufinden waren, weitete er sein Interesse auf die Orte des ehemaligen Landkreises Ziegenhain aus und hat in mehreren Jahrzehnten die wohl mit Abstand größte Sammlung zusammen getragen. Es war sein Wunsch, dass die Sammlung erhalten bleiben und Bestandteil des Archiv des Stadtgeschichtlichen Arbeitskreises werden sollte. In diesem Sommer konnte Vereinsvorsitzender Bernd Raubert mit Vereinsaktiven, unterstützt von einer Treysaeer Schulklasse, die sehr zahlreichen Ansichtskarten des Nachlasses „Sammlung Helmut Brauroth“ in einem ersten Durchgang nach Orten sortieren und strukturieren.                   Sternbald-Reproduktion Hartwig Bambey © Stadtgeschichtlicher Arbeitskreis e.V. – Sammlung Brauroth

Die Ansichtskarte verzichtet auf eine Dorfansicht als Totale und zeigt nicht typische Fachwerkhäuser und Höfe. Lediglich das Herrenhaus der Familie Schwertzell ist als traditionelles Motiv ausgewählt. Daneben werden drei Neubauten von Einfamilienhäusern abgebildet, darunter zwei gleiche eingeschossige Häuser mit Satteldach und ausgebauter Dachetage. Daneben ein Winkelbungalow, der als Ausdruck für gewissen Komfort und Wohlstand gelten kann. Eine prächtige Blumenrabatte und junge Bäume runden das Foto als Ausdruck modernen Bauens im Dorf ab. 

Dies alleine wäre nicht hinreichend. Zudem zeigt die Ansichtskarte mit dem Schriftfeld unten rechts „Gruß aus Willingshausen“ als Hauptmotiv das Gebäude der neuen Grundschule in einer Totale, umgeben von Schuhof und einer Grasfläche. Die Schrägperspektive gewährt einen Blick auf die kunstvoll mit einem großformatigen Wandbild gestaltete Giebelseite. Das langgezogene Schulgebäude mit großen Fenstern entland der Traufseite ruht auf einem Untergeschoss, dessen rechter Teil hinter Stützsäulen einige Meter zurückgesetzt ist. In eleganter Weise ist damit ein überdachter Pausenbereich für die Schüler an Regentagen geschaffen worden.

Diese modernen Neubauten – ausgeführt in einem maßstäblich und stilistisch auf traditionelle Dorfumgebung gleichermaßen bezogen wie davon unterschieden – markieren eine neue Zeit für das Dorf, wenn man so will einen Niederschlag oder sogar Aufbruch in die Moderne. Die Moderne hatte damit Willingshausen erreicht und Spuren hinterlassen.

Dies wird unterstrichen, ja gekrönt mit der Beauftragung des Künstlers Günter Heinemann, der seit 1948 im Ort lebte, zur Gestaltung der Giebelwand. Siehe dazu gesonderten Artikel. Die Giebelseite des Schulgebäudes thematisiert in modern-abstrakten Stil in der Tradition „Bildender Kunst“ den Wandel des Dorfes Willingshausen in einer modernen Freizeitgesellschaft.

Die Zeit der Malerkolonie bis 1914 lag Jahrzehnte zurück. Die Erinnerungen daran waren verblasst und abgesunken und von einer bevorstehenden „Renaissance als Malerdorf“ in veränderter Weise mit Malkursangeboten für Freizeitmaler beginnend 1972 hatte kein Mensch im Dorf eine Ahnung und Vorstellung.

Willingshausen hat mithin in seinem gebauten Ortsbild Elemente von Moderne vorzuweisen. Zudem lebte mit Günter Heinemann ein Maler und Künstler in Willingshausen, der sein Schaffen immer als moderne Kunst begriffen und gestaltet hat und wider verbreitete Verständnislosigkeit von Dorfbewohnern behauptet hat.