Aus der Geschichte eines Hauses

Das vormalige und nicht mehr existierende Gasthaus Haase zählt(e) in Willingshausen zu den Häusern mit herausragender Bedeutung. Dies ging durchaus nicht auf seine Bauweise oder äußerliche Gestalt zurück. Diesbezüglich hatte der Fachwerkbau wenig Herausragendes zu bieten. Im Lauf von Jahrzehnten entwickelte sich das Haus Haase zum Mittelpunkt des Künstlerlebens in Willingshausen im 19. Jahrhundert, indem darin zahlreiche Maler Quartier fanden für ihre oft mehrwöchigen Arbeitsaufenthalte in den Sommermonaten im Ort. Da die vermietbaren Zimmer des Gasthauses mit der wachsenden Zahl der Maler im Ort nicht Schritt gehalten haben, mussten viele Maler sich wohl oder übel mit einem Schlafplatz im Saal des Gasthauses begnügen, wie sich überliefert findet.

Wer also in Willingshausen nach einem einschlägig bedeutenden Haus oder Gebäude sucht, kommt am Gasthaus Haase nicht vorbei. Eine Rolle spielte dabei die aufgeschlossene und freundliche Persönlichkeit des Gastwirtes, der als Hase auf der bekannnten bemalten Tür des Malerstübchen sich verewigt findet.

 

Dem großzügigen Haus, erbaut von der Witwe des verstorbenen Oberförsters Hücker in der Neustädter Straße kommt einige Bedeutung zu. Zur Versorgung der Tochter gedacht, wurde es als Fremdenheim, sprich Pension, geplant und erbaut. Damit konnten darin viele Maler Zimmer anmieten und damit eine Bleibe für ihre Malaufenthalte finden. Seit 1906 war Wilhelm Thielmann ständiger Mieter von zwei Zimmern in der oberen Etage, dazu ein Atelerraum, der einen Ausblick über die Ortslage geboten hat. So verwundert es nicht, dass vom Zeichner und Maler Thielmann mit dieser Perspektive eine Zeichnung und ein Ölbild von Willingshausen geschaffen wurden.

Mit diesen beiden Häusern waren ihre Eigentümer zugleich intensiv mit vielen Malern verbunden. Insbesondere das Leben im Feierabend – jenseits der Beschäftigung via Skizzenbuch oder Leinwand mit Landschaft und Menschen – brachte die Maler mit den Dorfbewohnern in Kontakt. In anderer Perspektive entstand für viele Menschen in Willingshausen Kontakt zu den Malern, indem sich viele als Modell gegen Bezahlung zur Verfügung stellten.Viel berichtet wird besonders über Gastwirt Haase und Oberförster Hücker als Kontaktpersonen.

Zur Eigenart von Willingshausen als Malerdorf gehört es, dass sich lediglich ein Maler für den Ort als Lebensmittelpunkt entschieden hat. Auch darin erweist sich die verbreitete Einordnung von Willingshausen als Malerkolonie brüchig. Im Unterschied zu anderen Malerorten, wie etwa Worpswede, kam es in Willingshausen nicht zur Ansiedlung von Malern. Selbst Carl Bantzer, der mit Willingshausen ein Leben lang verbunden war, baute sein Haus in Marburg, nicht in Willingshausen.

Damit kommt der Seßhaftwerdung von Wilhelm Thielmann mit dem Bau eines Atelierhauses im Ort besondere Bedeutung zu. Das Grundstück am Ortsrand hatte Thielmann schon einige Zeit zuvor als Gartenland gekauft und startete den Hausbau nach der Inflationszeit einige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs. Das Haus war gerade bezugsfertig geworden und seine Frau mit den drei Kindern wohnten bereits darin als Wilhelm Thielmann in Kassel überraschend starb.

Daraus sollten für das Haus einschneidende Folgen entstehen. Alexandra Thilenius aus Bad Wildungen, verheiratete Thielmann, war selbst ausgebildete Malerin. Dies hatte sie nach Willingshausen geführt. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes war die Not groß. Die verbliebene vierköpfige Familie musste ernährt werden. In der Malerei konnte die junge Witwe keine Perspektive erblicken und war daher veranlasst anderen Lebenserwerb zu suchen. In der Person von Marthlies Dörr, die im Gasthaus Haase sich um das leibliche Wohl der Maler kümmerte und viele Kontakte zu diesen pflegte, hatte Alexandra Thielmann bereits ein Vorbild und eine Könnerin in Sachen traditionelle Schwälmer Weißstickerei gefunden.

Not macht erfinderisch – mit dem frühzeitigen Tod des Hausbauers und Malers Thielmann sollte dessen Atelierhaus neben Obdach für die Familie eine andere Nutzung und Bedeutung zuwachsen. Alexandra Thielmann machte sich mit den Mustern, Motiven und Sticktechniken der Schwälmer Weißstickerei vertraut und begann selbst Stücke zu produzieren. Das wurde zum Gründungsmoment der Werkstatt für Schwälmer Weißstickerei.

Schnell wurde absehbar, dass die zeitraubende und mühsame Handarbeit in diesem Kunsthandwerk Grenzen entstehen ließ, was die Anzahl herstellbarer Tischdecken, Kissenbezüge oder anderer Textilien betraf. So bot Alexandra Thielmann jungen Mädchen und Frauen eine lernende Mitarbeit an. Eine Stickschule war damit in Willingshausen gegründet, zu deren Eigenart es gehörte, dass bevorzugt im Winterhalbjahr gearbeitet wurde. In den Sommermonaten war die Arbeitskraft vieler Töchter und Frauen in Haus und Hof unverzichtbar und ließ wenig verfügbare Zeit für das Sticken.

So ist hat dem Atelierhaus Thielmann statt der Malerei ein besonderes Kunsthandwerk Einzug gefunden und sollte sich zu einer durchaus ertragsreichem Unternehmung entwickeln. Die auf den traditionellen Elementen der Schwälmer Stickerei beruhenden Motive wurden von Thielmann vorsichtig weiterentwickelt und damit für bürgerliche Kundschaft auf Tischdecken und bestickten Schmuckkissen attraktiv. Im Verlauf der Jahre entwickelte die Malerwitwe in Willingshausen eine regelrechte Schule, in der eine Zahl junger Frauen mit den Sticktechniken vertraut gemacht wurden und zugleich Schwälmer Tradition – angesichts zahlreicher Modernisierungen und beobachtbarer Abwendung von Trachtenkleidung und anderen Volksbräuche – eine systematische Pflege und Bewahrung erfahren hat.

Dies ist in Themenbereich, der bis heute eher vernachlässigt wird. Ein Stickmusterbuch lässt sich nun einmal einfacher zusammenstellen als eine fundierte Abhandlung über die Folgewirkungen der Werkstatt für Schwälmer Weißstickerei.

Neben dem kleingewerblichen Schaffen im Haus Thielmann gab es dort Raum für ein erweitertes Familienleben. Carl Bantzer sah sich der Familie nach dem Tod seines Kollegen und Freundes verpflichtet und übernahm die Patenschaft für eines der Kinder auch in materieller Hinsicht. Dies ermöglichte es Marianne Thielmann eine Ausbildung zur Malerin.

Die Malerin Henriette Schmidt-Bonn besuchte Willingshausen seit 1911 regelmäßig und wurde zu einer Freundin von Alexandra Thielmann. Als 1942 ihr Wohnhaus in Düsseldorf bei einem Bombenangrif zerstört war, ging sie ganz nach Willingshausen und wurde Mitbewohnerin im Atelierhaus Thielmann. Sie lebte dort bis zu ihrem Tod im Jahr 1946.

Seit 1924 steht das von Wilhelm und Alexandra Thielmann erbaute Haus in der Neustädter Straße in Willingshausen. Sternbald-Foto Hartwig Bambey © 2021

Das etwas außerhalb der Ortslage in einem Hanggrundstück an der Neustädter Straße gelegene Haus entwickelte sich in den Jahrzehnten nach 1924 zu einem neuen Mittelpunkt für Kunsthandwerk und Malerei in Willingshausen. Spätestens mit dem Tod von Carl Bantzer 1941 hatte die Geschichte von Willingshausen als Malerdorf ein Ende gefunden. Es gab zwar mit Henner Knauf und weiteren Künstlern Maler, die sich in der Tradition der Willingshäuser sahen und malerisch betätigten, die Bedeutung des Ortes als sommerlicher Aufenhalt für eine große Zahl von Malern war – signifikant wahrnehmbar bereits seit Beginn des Ersten Weltkriegs – in den 1930iger Jahren ein für alle Mal zuende gegangen.

Das Malerstübchen war zur Reminiszenz geworden, es verwaiste und wurde in der Nachkriegszeit für viele Jahre eingelagert. Im Nachkriegsdeutschland waren Wiederaufbau und moderne Zeiten angesagt, Willingshausen wurde ein Dorf unter vielen. Umso wichtiger für die weitere Entwicklung mit Renaissance der Malerei im Ort sollte sich das Haus in der Neustädter Straße erweisen. Es wurde bewohnt von Marianne Thielmann, die den Kunstmaler Günter Heinemann heiratete. Dieser war moderner Darstellungssprache und Stilrichtung zugewand. Er verdiente den Lebensunterhalt mit zahlreichen Aufträgen im Rahmen von Kunst am Bau.

Indem alle Schulen gebaut und Gemeinschaftshäuser errichtet waren, versiegte diese Einnahmequelle für Günter Heinemann Ende der 1960iger Jahre. Der Gedanke Malkuse für Freizeitmaler anzubieten wurde gemeinsam mit  Heinrich Todt als Vermieter von Gästezimmern in Willingshausen angegangen und konnte erfolgreich in die Wirklichkeit umgesetzt werden. So wurde das Haus Thielmann zum dritten Mal zu einer Keimzelle.

Die Malkurse konnten dank umfangreicher Öffentlichkeitsarbeit mit Berichten in vielen großen Zeitungen und einschlägigen Magazinen popularisiert werden. Der Lebensunterhalt für Günter und Marianne Heinemann wurde damit finanziert – mehr noch in Willingshausen entwickelte sich Neues, wenn auch verändertes Leben um die Malerei.

Bei schlechtem Wetter konnte zunächst der Atelierraum im Haus Thielmann, nunmehr Heinemann, genutzt werden. Denn es fehlte im Ort an geeigneten Atelierräumen für die immer zahlreicher werden Kursteilnehmer/innen. Abhilfe wurde zunächst geschaffen, indem das vormalige Schulgebäude in der Ortsmitte dafür provisorisch hergerichtet wurde. Dies war ein Zwischenbehelf, der dem Bedarf jedoch nicht gerecht werden konnte. Eine Chance bot sich für die in Sachen Kulturtourismus allmählich erwachende Gemeindeverwaltung mit dem Kauf des Rentereigebäudes der Familie von Schwertzell. In dessen oberen Etage war Raum zu Einrichtung von Atelierräumen, die dort bis in das Jahr 2016 von der inzwischen so benannten Malschule Willingshausen genutzt worden sind.

Die Geschichte des Hauses an der Neustädter Straße, seit langen Jahren sommertags von der Straße beinahe vom Laub der großen Kastanie verborgen, ist damit freilich noch nicht zu Ende berichtet.

Marianne Heinemann bewohnte ihr Elternhaus nach dem Tod ihres Mannes einige Jahre alleinstehend darin lebend. Vom Kunsthistoriker und Kenner Willingshauses Dr. Bernd Küster erreichte sie ein Angebot zum Verkauf bzw. zur Hausübernahme auf Rentenbasis. Ein Vertrag wurde geschlossen. Marianne Heinemann konnte die zusätzliche Einahme im Alter gut gebrauchen. Sie bewohnte das Haus weiter bis zum Jahr 2013.

Dass der neue werdende Eigentümer als Kunsthistoriker dem Haus eine grundständige und angemessene sorgfältige Renovierung und Erneuerung zukommen werden lassen würde, konnte niemand überraschen. In 2016 erhielt Bernd Küster einen Denkmalpreis des Landes Hessen für die gelungene denkmalgerechte Instandsetzung und Ertüchtigung von Haus und Gartengrundstück. Die Zuwegung war zwischenzeitlich von der Neustädter Straße in die im Zuge von Neubebauung oberhalb gelegener Flächen entstandene Dr. Wilhelm-Schoof-Straße verlegt worden. Dem Blick hangaufwärts zum Atelierhaus Thielmann begegnet ein unterhalb gelegener Tank für Flüssiggas als Zeichen einer inzwischen installierten Heizungsanlage.

Das Haus wollte Bernd Küster selbst bewohnen. Er hat sich von Willingshausen jedoch abgewendet, nachdem seine Initiative zusammen mit Regine Bantzer, der Ururenkelin des Malers, mit dem Verein Malerstübchen Willingshausen für eine zeitgemäße Aufarbeitung der Archivbestände und eine museumsgerechte Darstellung der Geschichte der Malerkolonie Willingshausen auf Ablehnung durch regressiv orientierte Personen im Ort gestoßen ist.

Damit befindet sich inzwischen das fraglos bedeutendste Haus Willingshausens in Sachen Kunstgeschichte und Malerei in einem merkwürdigem transitorischem Zustand ungenutzten Leerstands

Im Ort haben nach wie vor selbstermächtigte und auf Eigennutz bedachte Gralshüter das Heft in der Hand. Wissenschaftler sind unerwünscht und bleiben ausgesperrt, Engagement von auswärts wird abgelehnt. Man kocht lieber das eigene Süppchen ungeachtet der Flurschäden, die rechts und links des Geschehens damit seit Jahr und Tag angerichtet werden.

Geradezu als Katalysator regressiven Handelns und von Verweigerung hat sich die Willingshausen Touristik Betriebsgesellschaft mbH (WTB) mit Mehrheitseigner Gemeinde Willingshausen entwickelt. In Verstoß gegen die Hessische Gemeindeordnung wurde lange ein Geschäftsführer beschäftigt, der zugleich gewählter Mandatsträger war. Die Malschule Willingshausen wurde äußerst unfreundlich aus dem Gerhardt-von-Reutern-Haus verwiesen. Dies alleine ein Unding, wäre doch weder dieses Haus ohne das langjährige Wirken der Malkursbetreiber erworben worden, noch ein Künstler-Stipendium auch nur denkmöglich geworden, bis hin zum Bau der Kunsthalle, deren Basis ebenfalls von den Tausenden Malkursbesuchern in Willingshausen seit 1972 ideell und materiell gelegt worden ist.

Während seitens der WTB mit sträflicher Duldung von der Gemeinde die Kernaufgabe ihres Daseins Tourismusförderung nicht alleine vernachlässigt wird, gibt es seit Jahren einen signifikanten Mangel an Gästezimmern im Kernort Willingshausen. Der Gastronomie der Gürre Stubb wurde alles andere als Förderung zuteil. Derzeit versucht man mit einer öffentlich geförderten Sanierung des Gerhardt-von-Reutern-Hauses die Entwicklung des Ortes in erratischer Weise voranzubringen. Ein Konzept afür existiert nicht. Stattdessen hat man sich auf den anmaßenden Begriff „Weltkultur-Haus“ verständigt und will im Februar 2023 mit Bauarbeiten beginnen ohne dass ein qualifiziertes Raum- und Nutzungskonzept vorliegen würde. Der Architekt und die Handwerker werden es schon richten.

Insbesondere für das Malerstübchen bedarf es dringend einer zeitgemäßen musealen Darstellung. Die Hessische Museumsberatung bleibt außen vor, kann ohne Interesse seitens des Bauherrn Gemeinde Willingshausen und Betreibers Verein Malerstübchen nicht wirksam tätig werden.

Bedauerlich und unverständlich ist dabei, dass den offensichtlichen Machenschaften im Ort von kaum einer Handvoll Personen seitens des Hauptträgers des Künstlerstipendiums Willingshausen nichts entgegengesetzt wird. Mit dem beiden je dreimontigen dotierten und kuratierten Stipendien inklusive der Anmietung eines Domizils für die jungen Künstlerinnnen und Künstler hätte die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen einen maßgeblichen Hebel in der Hand, der nicht zur Wirkung gebracht wird. So wird seit 1996 ununterbrochen alleine das Hirtenhaus als Domizil für die Stipendiaten angemietet. Das mindestens ebenso geeignete Ferienhaus Zimmermann in der Wasenberger Straße 17 wird seite Jahren schnöde ignoriert und kaltschnäuzig übergangen.

Bei Betrachtung dergestaltiger Binnenverhältnisse im Malerdorf hat der Blick in die Zukunft zu vergegenwärtigen, dass maßgebliche Potentiale im Ort diskriminiert, verhindert und ökonomisch benachteiligt werden. Angesichts erheblicher öffentlicher Mittel, die investiert wurden und weiter verausgabt werden, kann dies nur als unhaltbarer Zustand bezeichnet werden.

Es ist in 2021 die Kultur-Initiative Willingshausen e.V. gegründet worden im Bemühen gewisse Vielfalt und räumlich Alternativen zu entwickeln. Ein vormaliger Bäckereiladen wird für Ausstellungen genutzt und die Malschule Willingshausen hat dort neues Domizil gefunden.

Mit der derzeit völlig offenen Situation um das Atelierhaus Thielmann lassen sich Gedanken entwickeln zu Möglichkeiten – zugleich qualifizierte Interventionen eines Zukunftsszenarios fortschrittlicher Ortsentwicklung. Die Geschichte dieses Hauses gibt Auskunft über die ihm inhärenten Möglichkeiten. Darin ruht großes Potential, das um seiner selbst willen mit der beeindruckenden Geschichte in einen Aktivposten transformiert werden kann. Eine unaufhaltbare und notwendige Öffnung und Entwicklung des Ortes steht Willingshausen erst bevor.